Krankheit mit vielen Gesichtern

Doppelbilder als Migräne-Aura

Doppelbilder als Migräne-Aura

Bis zum Jahre 1988 konnte sich jeder Arzt quasi seine eigene Defintion von Kopfschmerzen zurechtbasteln. Das änderte sich erst, als die Internationale Kopfschmerzgesellschaft (IHS) einen Katalog der zahlreichen Diagnosekriterien veröffentlichte. Dieser findet sich heute auch in den so genannten ICD-10 wieder, der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (International Classification of Diseases, 10. Auflage), die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben wird. Im Jahre 2004 wurde eine erste Überarbeitung, die zweite Auflage, von der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft veröffentlicht.

Allein wenn wir uns die Oberkategorien dieser Einteilung anschauen, zählen wir 13 verschiedene Hauptgruppen von Kopfschmerzen. Eine Ebene tiefer kommen wir bereits auf 36 Unterkategorien und bei ganz exakter Diagnose zählen wir über 250 verschiedene Arten von Kopfschmerzen.

Doppelbilder als Migräne-Aura (Foto Dr. Angelika Demel)

Würden all diese Kopfschmerztypen auf die gleiche Art und Weise behandelt, so wäre eine solch differenzierte Klassifikation natürlich nichts weiter als ein Spielzeug für medizinische Erbsenzähler. Doch so ist es eben nicht. Es liegt auf der Hand, dass der durch Bluthochdruck ausgelöste Kopfschmerz mit einem Senken des Blutdrucks, oder der auf eine bakterielle Hirnhautentzündung zurückzuführende Kopfschmerz mit einem Antibiotikum zu behandeln ist.

Doch sehr viele tun sich nicht nur schwer in der Differenzierung solcher doch recht spezieller Kopfschmerzarten, sondern sogar in der korrekten Diagnosestellung der beiden Großgruppen „Kopfschmerzen vom Spannungstyp“ und „Migräne“, die immerhin zusammen gut neunzig Prozent aller Kopfschmerzen ausmachen.

Kopfschmerz vom Spannungstyp oder Migräne?

Anhand einer gründlichen Untersuchung muss der Arzt natürlich so genannte symptomatische Kopfschmerzen ausschließen. Das sind Kopfschmerzen als Symptom einer anderen Erkrankung. Es könnte schließlich sein, dass der Schmerz Folge eines grippalen Infektes, einer giftigen Substanz oder gar eines Hirntumors ist. Sind diese Kopfschmerztypen ausgeschlossen und kann der Patient detailliert – zum Beispiel anhand eines Kopfschmerztagebuchs – angeben, wann und wie oft der Schmerz auftritt und welche Begleitsymptome er hat, so ist die Unterscheidung zwischen Kopfschmerz vom Spannungstyp und Migräne im Grunde sehr einfach.

Die Abgrenzung der Migränekopfschmerzen gegenüber Kopfschmerzen vom Spannungstyp liegt zum einen in der Dauer: Ein Migräneanfall ist meist nach längstens 72 Stunden vorbei, Kopfschmerzen vom Spannungstyp können sich unbehandelt von 30 Minuten bis zu sieben Tagen hinziehen. Auch der Schmerzcharakter ist unterschiedlich: Während bei der Migräne ein pochender, pulsierender oder hämmernder Schmerz auftritt, ist er bei Kopfschmerzen vom Spannungstyp eher dumpf, drückend oder ziehend. Auch die Intensität ist unterschiedlich: Während ein Migräneanfall die normale Aktivität meist extrem einschränkt, ist dies bei Kopfschmerzen vom Spannungstyp nicht unbedingt der Fall. Migränepatienten suchen Bettruhe auf, Spannungskopfschmerz wird dagegen durch Bewegung in der frischen Luft besser.

Ein ganz wichtiges Kriterium ist das Auftreten von Übelkeit und Erbrechen, sowie Licht- und Lärmempfindlichkeit. Übelkeit und Erbrechen treten bei Kopfschmerzen vom Spannungstyp nicht auf, während Licht- oder Lärmempfindlichkeit möglich, aber nicht typisch sind.

Herausfinden lässt sich das natürlich erst, wenn die Kopfschmerzen bereits mindestens fünfmal aufgetreten sind und der Patient recht genau über den Verlauf der Schmerzen Auskunft geben kann. Und es gibt natürlich Menschen, die sowohl unter Migräne, als auch unter Kopfschmerzen vom Spannungstyp leiden. Dann gilt es, beide Kopfschmerzformen zu erkennen und gezielt zu behandeln.

Ein Sonderfall und sozusagen eine Komplikation ist die chronische Migräne. Diese tritt an 15 und mehr Tagen im Monat seit mindestens 3 Monaten auf. Ein Medikamentenübergebrauch wurde ausgeschlossen. Eine chronische Migräne tritt meist erst als Folge einer jahrelangen Kopfschmerzerkrankung auf.

Wenn Sie selbst betroffen sind, sollten Sie einen diagnostischen Kopfschmerzkalender führen. Wenn Sie dies gewissenhaft tun, können Sie Ihre Kopfschmerzform fortlaufend bestimmen und mit Ihrem Arzt diskutieren. Rückwirkend können Sie Ihre Erfahrungen in den diagnostischen Kopfschmerzfragebogen eintragen. Er hilft Ihnen dabei, herauszufinden, ob Sie unter Migräne oder Kopfschmerzen vom Spannungstyp leiden.

Vorboten der Migräne

Reizüberflutung vor dem Anfall

Reizüberflutung vor dem Anfall

Knapp ein Drittel der Migräniker hat bereits bis zu zwei Tage vor der Migräneattacke Symptome, die den kommenden Anfall ankündigen. Diese Vorboten können sehr unterschiedlich ausfallen: starke Gereiztheit, Appetit auf Süßes, häufiges Gähnen, Aufgedrehtheit, Müdigkeit und vieles mehr.

Wenn dann die Migräne-Attacke einsetzt, liegt für den Patienten natürlich nahe, in den Vorbotensymptomen den Auslöser oder gar die Ursache der Migräne zu sehen – beispielsweise Stress beim Vorsymptom Gereiztheit, Schokolade beim Symptom „Appetit auf Süßes“ oder Schlafmangel bei zuvor auftretender Müdigkeit. Doch das wäre ein Fehlschluss. Es handelt sich nicht um Auslöser des Migräneanfalls und schon gar nicht um dessen Ursachen. Vielmehr sind dies bereits die ersten unspezifischen Symptome der Migräne.

Aura: Wenn die Nerven verrückt spielen

Bei jedem zehnten Migränekranken beginnt der Anfall mit Störungen des zentralen Nervensystems, die man als „Aura“ bezeichnet. Diese Störungen entwickeln sich binnen weniger Minuten und dauern üblicherweise maximal eine Stunde. Wenn mehrere Störungen nacheinander auftreten, so addieren sich die Zeitspannen und können dann die Dauer von einer Stunde überschreiten. Auch bei einer Sonderform der Migräne – der „Migräne mit verlängerter Aura“ – halten die Störungen länger an: zwischen 60 Minuten und sieben Tagen.

Was aber ist eine Aura? Das Phänomen wurde nach der griechischen Göttin der Morgenröte Aurora benannt. Vor der Kopfschmerzattacke treten wie bei einem Sonnenaufgang innerhalb von 15 bis 30 Minuten langsam stärker werdende neurologische Störungen auf. Meist – in etwa 90 Prozent der Fälle – handelt es sich um Sehstörungen. Am Rande des Gesichtsfeldes tauchen plötzlich flimmernde Punkte oder Zickzacklinien, Schlieren oder Schleier auf, die sich allmählich ausbreiten. Die Aura kann sich jedoch auch in Form von Schwindel, Sprachstörungen, Kribbeln in bestimmten Körperteilen oder sogar Lähmungserscheinungen zeigen.

Die Migräne-Aura hat ihren Namen von der griechischen Göttin der Mörgenröte Aurora: Über diesen Link finden Sie mehr zur Aurora und den damit verbundenen Sehphänomenen. Sie gleicht Sehphänomenen, die Migränepatienten während der Auraphase erleben.

Nach den Aurasymptomen setzt üblicherweise der Kopfschmerz ein. Doch er kann auch ganz fehlen. Manche Patienten klagen jahrelang über eines oder mehrere Aurasymptome, ohne auch nur im Entferntesten zu ahnen, dass sie an Migräne leiden. Weil die Symptome meist nicht länger als zehn bis 30 Minuten dauern, halten die Patienten es oft nicht für nötig, sich damit an einen Arzt zu wenden.

Vielleicht werden Sie jetzt denken, es handle sich bei der Aura auch um Vorboten der Migräne, wie ich sie im letzten Abschnitt beschrieben habe. Genau das sind sie aber nicht. Wie Sie noch genauer erfahren werden, ist Migräne eine Erkrankung des Nervensystems. Diese neurologische Störung äußert sich zwar meist in Form der typischen pulsierenden Kopfschmerzen, aber eben auch in den Aurasymptomen. Sie sind deshalb die Migräne selbst, keine Vorboten. Und sie sind so typisch, treten in dieser Form nur bei der Migräne auf, sodass sie ein absolut eindeutiges Anzeichen dafür sind, dass es sich bei den meist nachfolgenden Kopfschmerzen tatsächlich um Kopfschmerzen im Rahmen einer Migräne handelt.

Die Kopfschmerzphase und ihre Merkmale

Der Migräneanfall

Der Migräneanfall

Es gibt zwei mögliche Erklärungen für das Wort „Migräne“. Die eine besagt, dass es vom griechischen „hemikrania“ (hemi = halb, kranion = Schädel) abstammt, weil der Migräneschmerz bei etwa jedem zweiten Betroffenen nur auf einer Kopfseite auftritt. Die andere Erklärung sieht den Ursprung des Wortes im lateinischen „migrare“, was soviel heißt wie „wandern“, „umherziehen“. Diese Theorie ist naheliegend, als in allen Phasen der Migräne ein Phänomen anzutreffen ist, das uns bereits bei der Aura begegnet ist: das einer allmählichen Ausbreitung oder Wanderung. In der Auraphase startet beispielsweise das Kribbeln etwa in den Fingerspitzen und breitet sich langsam wie die Morgenröte am Himmel von dort aus über den gesamten Arm bis hin zur Zunge.

Der Schmerz ist ein ruheloser Wanderer

Das gleiche Phänomen findet sich in der Kopfschmerzphase. Denn auch der Schmerz kann wandern: Zu Beginn der Attacke kann er zum Beispiel diffus vom Nacken über den ganzen Schädel verteilt sein, um sich dann im zeitlichen Verlauf der Attacke mal an dieser, mal an jener Stelle des Kopfes – auch zum Beispiel in Unter- und Oberkiefer – zu äußern. Am Höhepunkt des Anfalls ist er dann jedoch an seiner individuell unterschiedlichen Hauptstelle zu spüren, um sich im weiteren Verlauf der Attacke wieder mit verschiedenen Zwischenstationen auf den Ausgangsort zurück zu ziehen.

Während seiner Wanderung ist auch der Schmerzcharakter oft einer Veränderung unterworfen. Am Anfang und gegen Ende des Anfalls kann er durchaus dumpf, ziehend oder drückend sein – also ganz ähnlich wie ein Kopfschmerz vom Spannungstyp. Am Scheitelpunkt der Attacke aber, wenn der Schmerz seine hauptsächliche Lokalisation eingenommen hat, entspricht er fast immer dem typischen Migräneschmerz mit seinem pulsierendem Charakter und erreicht eine Intensität, die weit über jener liegt, die für den Kopfschmerz vom Spannungstyp üblich ist.

Der Migräneanfall (Gemälde von Dr. Angelika Demel)

Jede Bewegung verstärkt den Schmerz

Ganz typisch für die Migräne ist auch, dass sich der Schmerz bei jeder Bewegung verschlimmert. Wer unter Kopfschmerzen vom Spannungstyp leidet, findet möglicherweise Linderung durch einen Spaziergang im Park oder ein bisschen Gymnastik. Nicht so der Migräniker: Jede körperliche Anstrengung, und sei es nur der Gang zur Toilette, macht den Schmerz noch unerträglicher. Das gleiche gilt für Niesen, Husten oder Erbrechen. Diese Eigenheit von Migräneschmerzen ist so typisch, dass sie auch zur Unterscheidung von anderen Kopfschmerzformen herangezogen werden kann.

Dauer und Häufigkeit der Attacken

Die eigentliche Schmerzphase der Migräne kann von vier bis zu 72 Stunden dauern. In den meisten Fällen ist der Schmerz jedoch nach etwa einem Tag vorüber. „Nur“ etwa zehn Prozent der Patienten leiden tatsächlich bis zu drei Tage unter den quälenden Schmerzen. Dauert die Attacke länger als drei Tage, so spricht man vom so genannten „Status migraenosus“ (migräneartiger Dauerzustand). Dies ist jedoch nicht der Normalfall, sondern eine Komplikation der „normalen“ Migräne.

Im Mittel leiden Migräniker unter einer bis zwei Anfällen pro Monat. Nur etwa acht Prozent der Betroffenen haben mehr als drei Attacken im Monat. Allerdings kann die Häufigkeit der Anfälle bei ein und derselben Person im Laufe der Zeit stark schwanken. So kann es durchaus Phasen geben, in denen die Attackenfrequenz deutlich nachlässt, andere, in denen sie zunimmt.

Begleitsymptome belasten zusätzlich

Eines der besonders charakteristischen Begleitsymptome einer Migräneattacke ist die Übelkeit, unter der – je nach Studie – 65 bis 95 Prozent der Betroffenen leiden. Erbrechen tritt bei knapp 50 bis 60 Prozent der Attacken auf. Die restlichen Patienten – also jene, die weder unter Übelkeit noch Erbrechen leiden – sind zumindest appetitlos. Hierzu ist anzumerken, dass Patienten unter „Übelkeit“ sehr unterschiedliche Dinge verstehen. Manche zum Beispiel setzen Übelkeit mit Erbrechen gleich, andere verstehen darunter einen Widerwillen gegen Speisen oder einen Druck in der Magengegend. Schon aus diesen unterschiedlichen Begriffen resultiert die Bandbreite der typischen Begleistymptome von Appetitlosigkeit bis Erbrechen, wobei auch Sodbrennen, Blähungen und Bauchschmerzen dazu gehören. Sicher ist jedenfalls, dass kein Migränepatient während eines Anfalls Heißhunger auf bestimmte Speisen verspürt. Das kommt lediglich während der Phase der Vorbotensymptome vor.

Wenn Streicheln zur Folter wird

Ganz typisch für einen Migräneanfall ist auch eine allgemeine Überempfindlichkeit der Sinne. Meist äußert sie sich in einer Licht- und/oder Lärmüberempfindlichkeit. Allein über eine starke Abneigung gegen laute Geräusche klagen 61 bis 98 Prozent der Patienten. Doch die Abneigung kann sich auch auf Gerüche beziehen, sodass sie selbst bei dezent aufgetragenen Parfüms Übelkeit empfinden. Häufig anzutreffen ist zudem eine Aversion gegen Berührungen. Auch wenn das mitleidende Streicheln des Partners nett gemeint ist – der Migränekranke kann es als schlimme Folter empfinden.

Interessant ist, dass die Schwere der Begleitsymptome direkt mit der Schmerzintensität in Zusammenhang steht. Anders formuliert: Je schlimmer die Begleitsymptome, desto stärker auch der Schmerz und umgekehrt.

Weitere mögliche Begleitsymptome

Über diese typischen Begleitsymptome hinaus können noch weitere auftreten:

  • Die Gesichtshaut wirkt während des Anfalls extrem fahl und bleich. Die Wangen sind eingefallen, die Haut sieht trocken, abgespannt und welk aus.
  • Die Augen können ihren Glanz verlieren und zu tränen beginnen. Sie wirken insgesamt leblos und eingesunken.
  • Der pochende, pulsierende Schmerz kann auch im Bereich der Nasennebenhöhlen oder im Nasen-Rachen-Raum auftreten. Bei manchen Patienten kommt es zu einer übermäßigen Produktion von Nasensekret bis hin zur Verstopfung der Nase. Auch das Gegenteil kann auftreten: Eine ausgetrocknete Nase und Nasenbrennen.
  • Während der Anfälle leidet der ganze Mensch – nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. Negative Befindlichkeiten wie Depressivität, Ängstlichkeit, Ärger und andere gewinnen die Oberhand, drängen positive Gestimmtheit wie Selbstvertrauen und Nachsicht in den Hintergrund.
  • Bei manchen Patienten kommt es zu Gewichtsveränderungen, da Flüssigkeitsaufnahme und -Ausscheidung verändert sind.
  • Einige Patienten beginnen während der Anfälle zu frösteln, frieren, zittern oder zu schwitzen. Ob dies mit einer tatsächlichen Veränderung der Körpertemperatur einhergeht oder ob es sich „nur“ um eine subjektive Wahrnehmung der Betroffenen handelt, ist unklar.

Nach den Schmerzen ist die Migräne nicht vorbei

Mit dem Abklingen der Migränekopfschmerzen ist die Attacke noch nicht überstanden. Fast alle Patienten leiden anschließend bis zu ein oder zwei Tagen unter starker Erschöpfung, Müdigkeit und Abgeschlagenheit sowie dem Wunsch, mit sich allein zu sein.

Zudem zeigt sich häufig eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit. So kann beispielsweise das Kämmen der Haare äußerst schmerzhaft sein oder es können stichartige Schmerzen im Kopfbereich auftreten (so genannter „Eispickelkopfschmerz“). Alles in allem benötigen die meisten Patienten nach einer Attacke eine Ruhephase mit viel Schlaf.

Die Abbildungen dieser Seite wurden von der Ärztin Frau Dr.med. Angelika Demel, Günzburg, freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Sie veranschaulicht damit ihre eigene Migräne.